Das Holstentor als Lichterscheinung

Martin Streit stellt in Lübeck Arbeiten mit seiner Camera obscura aus

Der Blick auf das Lübecker Wahrzeichen ist verstellt. Wo man sonst von der Grünanlage aus den freien Blick auf die mächtige Befestigungsanlage des Holstentor genießt und die Älteren ihrer Nostalgie nach dem hellbraunen Fünfzigmarkschein nachsinnen, ragt nun ein massiver einförmiger schwarzer Block auf, groß wie zwei aufeinander getürmte Überseecontainer.

Lübeck, Holstentor mit Installation von Martin Streit

Man kann dieses Gebilde betreten und im Inneren eine Eisentreppe ins stockfinstere Obergeschoss erklimmen. Sobald sich die Augen etwas an das Dunkel gewöhnt habe, erkennt man dort schemenhaft an der Wand vor sich – das altbekannte Holstentor. Allerdings steht es auf dem Kopf, leicht unscharf, und man sieht, dass sich Menschen auf dem Bild bewegen. Es handelt sich um die Projektion einer Camera obscura, wohl des frühesten bildgebenden Geräts der Menschheit. Nichts weiter als ein kleines Loch in der Außenhülle ist dafür nötig und eine dünne Leinwand, auf der die Projektion erscheint. Den Rest besorgen die optischen Gesetze.

Das Holstentor steht Kopf, Bild im Inneren des Containers

Das Ganze ist allerdings keine technische Vorführung und auch kein billiger touristischer Gag, sondern ein temporäres begehbares Kunstwerk – oder besser gesagt, eine Installation und damit Teil eines künstlerischen Konzepts des Kölners Martin Streit, der diesen Apparat 2014 auch schon auf der Kölner Domplatte aufgebaut hatte. Wer sich jetzt grummelnd fragt, was an diesen im Grunde sehr simplen Zutaten nun Kunst sein soll, der ist gut beraten, sich im St. Annen-Museum tiefer mit den Werken Martin Streits zu befassen, wo zeitgleich eine Ausstellung präsentiert wird. Dem Zweifelnden wird dort ein Licht aufgehen.

Im St. Annen-Museum erfährt man, dass der Künstler Martin Streit die besondere Sicht der Camera obscura auch im kleineren Format nutzt. Er hat mehrere davon gebaut. In seine transportablen Holzkisten hat er allerdings eine Digitalkamera eingebaut, die diese leicht verschwommenen, spiegelverkehrten und auf dem Kopf stehenden Bilder festhält und somit zur Wiederverwendung zur Verfügung stellt.

Ausstellung Martin Streit Camera obscura Holstentor

Konnte man im großen Bruder vor dem Holstentor schon darüber sinnieren, wie entmaterialisiert, in reines Licht aufgelöst, das berühmte Bauwerk aufschien, so ordnet sich hier in der Ausstellung das Bild. Es geht Streit nicht um die Wiedergabe irgendeiner Realität, sondern um die Sichtbarwerdung von Licht, das ja die Grundlage alles Sichtbaren ist. Martin Streit löst mit seinen auf Alu-Dibond-Platten gedrucken Bildern die Gattungsgrenzen zwischen Fotografie und Malerei auf. Sie erinnern von allem bei seinen unscharfen, ätherischen Figurenbildern an den ebenfalls in Köln lebenden Maler Gerhard Richter.

Ein kluger Ansatz der Ausstellung ist es, sich nicht nur auf die Camera-obscura-Bilder zu beschränken, sondern auch einige kleinformatige Gemälde einzubeziehen. Diese Malerei unterstreicht Streits minimalistischen Ansatz, die Reduktion von Sichtbarem auf Farbe und Licht. Es sind schlichte Stilleben mit Gläsern, sie wirken wie Giorgio Morandis stille Meditationen. Für sich genommen wären sie in einer Ausstellung recht uninteressant, aber im Kontext des künstlerischen Konzepts der Camera obscura setzen sie einen wundervollen poetischen Akzent. Dieses gesagt, sind sie natürlich auch in ihrer farblichen Virtuosität eines Schülers von Gotthard Graubner unbedingt würdig.

Ich war überrascht, wie stark diese Ausstellung mein Bild von dem, was ich zuvor am Holstentor gesehen hatte, verändert hat. War es im Großen mehr das Technische und bestenfalls die Faszination der Verfremdung des Holstentors in eine geheimnisvolle Projektion, so fügt sich erst durch die gelungene kleine Präsentation im St. Annen-Museum alles zu einem runden Bild eines Künstlers, der weit über die perfekte technische Umsetzung hinausgehend bedeutende Erfahrungen über die Grundlagen des Sichtbaren zu vermitteln weiß.

Herzlichen Dank an die LÜBECKER MUSEEN, die mich zu einer Pressereise zur Vorbesichtigung dieser Ausstellung eingeladen haben!

Die Installation am Holstentor und die Ausstellung im St. Annen-Museum sind zu sehen bis zum 28. August 2022. Öffnungszeiten: Camera obscura täglich 10-18 Uhr, St. Annen-Museum Dienstag – Sonntag 10-17 Uhr. Tickets für beide Präsentationen kosten 8€, sind an den Ausstellungsorten und auch online unter www.museum-holstentor.de erhältlich.

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